Das Jahr 2021 ist zu Ende. Es wird in die Geschichte eingehen als das zweite Jahr der ersten Pandemie des 21. Jahrhunderts. Noch ist kein Ende in Sicht und das beste, was wir erhoffen dürfen ist eine endemische Situation. Doch selbst dann bleiben die Folgen noch lange spürbar.
Linux in der Pandemie
Die Auswirkungen der anhaltenden Chipkrise und vielerorts zusammengebrochener Lieferketten werden uns noch über Jahre begleiten und haben auch die Nische Linux Hardware fest im Griff. Hersteller wie Pine64 oder Purism haben Probleme, die Komponenten ihrer Linux-Hardware einzukaufen. Purism hat daraufhin kürzlich beschlossen, ihre bis dahin praktizierte »Just-in-time«-Produktion auf eine Lagerhaltung umzustellen, die es erlaubt, solche Lieferengpässe aufzufangen.
Entwickler isoliert
Des Weiteren ist die Linux-Szene durch den Wegfall der persönlichen Treffen der Linux-Entwicklergemeinde durch die Pandemie betroffen. Die jährlichen Treffen auf Konferenzen wie FOSDEM, Chemnitzer Linuxtage, DebConf und viele andere erleben 2022 vermutlich zum dritten Mal die Austragung als reine Online-Konferenzen. Darunter leiden die sozialen Kontakte der Entwickler untereinander, die den größten Teil des Jahres online im IRC oder Plattformen wie Matrix, GitHub oder Slack zusammen arbeiten und nur auf den Konferenzen ihre sozialen Kontakte untereinander pflegen und neue knüpfen.
Geburtstag
Linux feierte 2021 seinen 30. Geburtstag. Das genaue Datum unterscheidet sich, je nachdem, ob als Geburtstag die Ankündigung oder die erste Veröffentlichung am 17. September angenommen wird. Am 25. August 1991 gab Linus Torvalds jedenfalls im Usenet bekannt, dass er an einem Betriebssystemkern arbeite. Im gleichen Atemzug gab er eine der wohl größten Fehleinschätzungen in der IT-Geschichte ab, vergleichbar mit Bill Gates Aussage, dass niemand jemals mehr als 640 KB Arbeitsspeicher brauchen würde (falls er das je wirklich gesagt hat). Torvalds sagte damals:
I’m doing a (free) operating system (just a hobby, won’t be big and
Linus Torvalds, 25.8.1991
professional like gnu) for 386(486) AT clones.
Mobiles Linux
Wir alle wissen, wie sehr er sich damit geirrt hat. Allerdings zu behaupten, Linux wäre im Mobilmarkt angekommen ist wahrscheinlich zu hoch gegriffen, denn dazu sind die vorhandenen Geräte bei Hard- und Software noch zu sehr im Experimentierstadium. Ein beachtenswerter Neuzugang in der Nische in diesem Jahr ist das JingPad A1, ein chinesisches Linux-Tablet, das mit dem dazugehörigen JingOS Apples iPad OS nacheifert. Ich habe das JingPad hier liegen, ebenso wie das Librem 5 und bin bei beiden noch nicht dazu gekommen, sie mir näher anzuschauen. Über das JingPad hat ein Leser dankenswerterweise einen ausführlichen Artikel verfasst.
Trends 2021
Für mich sind vorrangig zwei sich ergänzende Trends zu erkennen. Red Hat strebt mit RHEL ein unveränderliches Dateisystem an, dessen Standard-Paketbestand hauptsächlich aus Flatpaks besteht. Zunächst wird dieses neue Mantra vielleicht schon im kommenden Jahr bei Fedora Workstation nach dem Vorbild von Fedora Silverblue umgesetzt. Mit Fedora 35 erschien im Herbst Kinoite als Pendant auf der Basis von KDE Plasma. Es wird spannend zu sehen, welche Nachahmer es für diesen Trend geben wird.
Ein weiterer Trend aus der gleichen Ecke will Fedora den zwar coolen, aber der weiteren Verbreitung nicht unbedingt förderlichen Nimbus einer Distribution für Entwickler nehmen und mehr auf den generellen Desktop-Markt und sogar auf Gamer abzielen. Und wo wir schon bei Red Hat sind. Aufgrund der Entscheidung, CentOS in der bisherigen Form in Rente zu schicken, hat das Unternehmen zur Entwicklung von mindestens zwei neuen Distributionen beigetragen. die die Nachfolge von CentOS für sich beanspruchen. Es handelt sich dabei um AlmaLinux und Rocky Linux, die beide bereits mehrere Veröffentlichungen hinter sich haben.
Arch Linux hat im vergangenen Jahr ebenfalls einen Schritt in Richtung mehr Zugänglichkeit getan, mit dem nicht unbedingt zu rechnen war. Das Projekt hat mit einem offiziellen Installer-Script namens archinstall das Aufsetzen der Distribution wesentlich vereinfacht. Der neue Installer, der seit April in den Abbildern von Arch Linux verfügbar ist, arbeitet auf Textbasis und führt den Anwender durch die Installation.
Gaming
Gaming unter Linux liegt seit Jahren im Trend und wird dabei maßgeblich von der Firma Valve und deren Steam-Plattform gefördert. Am 15. Juli stellte Valve in diesem Zusammenhang die Handheld-Konsole Steam Deck vor, deren Auslieferung im Februar 2022 anlaufen soll. Was das mit Linux zu tun hat? Nun, als Betriebssystem läuft ein SteamOS, das auf Arch Linux basiert. Das könnte bedeuten, dass für Steam Deck freigegebene Spiele auch auf dem Linux-Desktop laufen. Zumindest ist das meine Einschätzung, die nicht von irgendwelchem Wissen über Gaming getrübt ist. Warten wir es also ab.
Aufgewertet
Im Rahmen der Modernisierung der Kernel-Entwicklung sieht ein Anachronismus seinem Ende entgegen: der Pflicht, für Einreichungen zum Kernel einen E-Mail-Client, -Dienst oder -Gateway starten zu müssen. Im Juni stellte Kernel-Entwickler Konstantin Ryabitsev seine Arbeit an einem Bot namens github-pr-to-ml vor, das auf GitHub Pull Requests überwachen und in vollständige Patch-Reihen umwandeln kann. Zudem arbeitet er in diesem Zusammenhang weiter an b4.
Das GNOME-Projekt hat mit GNOME 40 im März eine tiefgreifende Änderung des Bedienschemas eingeführt. Dabei wurde die Bedienung von einer bisher vertikalen zu einer horizontal ausgerichteten Bedienung geändert und rückt die bisher eher am rechten Rand klebenden Workspaces mittig in den Fokus. Diese Änderung des Bedienschemas ist hauptsächlich der Umsetzung einer besseren Bedienbarkeit auf Touchscreens geschuldet.
Gleichzeitig wurde auch die Versionierung vereinfacht. GNOME 40 hätte eigentlich 3.40 heißen sollen. Die Vorabversionen heißen künftig beispielsweise 42.alpha, 42.beta und 42.rc. Die Wartungs-Releases von GNOME 42 werden als 42.1, 42.2 usw. veröffentlicht. An dieses wichtige Release knüpft im nächsten Frühjahr GNOME 42 an, das die Integration von GTK 4 größtenteils umsetzt und dazu mit libadwaita den Nachfolger von libhandy einsetzt
KDE Plasma hat zumindest genauso viel Weiterentwicklung erfahren, allerdings eher als kontinuierliche Verbesserung und ohne große Brüche wie bei GNOME. Derzeit wird der Umstieg auf Qt6 vorbereitet, was aber nach Aussagen der Entwickler nicht als Bruch wahrnehmbar sein wird. Wo es bei Plasma noch hapert, ist Wayland, der Stand von GNOME ist noch nicht erreicht. Fedora 35 prescht hier mit dem KDE-Spin vor, der Wayland standardmäßig nutzt.
Andere Desktops wie Xfce unterstützen Wayland bisher noch gar nicht. Daran wird sich auch mit dem anstehenden Xfce 4.18 nicht viel ändern, initiale Unterstützung ist jedoch geplant. Längerfristig ist ein Umstieg von Xfwm auf Mutter als Fenstermanager geplant. Hier können Synergien genutzt werden, denn Olivier Fourdan, Schöpfer der Xfce-Desktop-Umgebung und mithin Autor von Xfwm, arbeitet mittlerweile für Red Hat unter anderem an Wayland und Mutter.
Diskussionsstoff
Neben Red Hats Entscheidung, CentOS in Rente zu schicken gab es noch andere Themen, die für Aufregung sorgten. Debian diskutierte gleich im Januar über den Umgang mit Non-Free-Firmware. Es ging darum, Abbilder der Distribution mit für aktuelle Hardware benötigter unfreier Firmware für Neueinsteiger besser zugänglich zu machen. Kontrovers diskutiert wurde im März die Rückkehr von Richard M. Stallman in den Vorstand der FSF.
Im März und April wurde Audacity zum Aufreger. Das Open Source-Tool zur Audiobearbeitung wurde von der Muse Group übernommen. Kurz darauf wurde die Einführung von per Google Analytics erhobener Telemetrie angekündigt, was einen ersten Fork der Software bewirkte. Es gab erhitzte Diskussionen auf verschiedenen Plattformen, woraufhin Muse Group einen Rückzieher machte, um die Pläne zu überarbeiten. Im Juli wurden dann mit einer neuen Datenschutzrichtlinie etwaige noch verbliebene Sympathien verspielt. Hier redete man sich als Reaktion auf den Sturm der Entrüstung mit »unklarer Formulierung« heraus. Wer danach den Glauben an eine wohlmeinende Muse Group verloren hat, kann sich den Fork Tenacity anschauen.
Im August gab es Aufregung um Beiträge zum Kernel von der University of Minnesota. Studierende hatten für ein Forschungsprojekt vorsätzlich fehlerhafte Patches, die teilweise eine Sicherheitsgefährdung darstellten, an die Kernel-Mailingliste geschickt, um die Sicherheit von FLOSS Projekten und hier im Speziellen die des Kernels zu testen. Selbst Greg Kroah-Hartman, üblicherweise ein Meister der leisen Töne, fand dafür harsche Worte und sperrte alle Einreichungen der @umn.edu-Domain und somit die gesamte University of Minnesota von der Kernel-Entwicklung aus.
Auch Google trug wieder sein Scherflein zu den Aufregern des Jahres bei. Mit Federated Learning of Cohorts (FLoC) stellte der Suchmaschinen-Riese damit ein Konzept zum verträglichen Tracking der Anwender des Chrome-Browsers zu Werbezwecken vor. In der Folge erklärten viele Unternehmen und Organisationen FLoC zum Sicherheitsrisiko und lehnten die Verwendung ab.
Im April und Mai schoss der neue Besitzer des IRC-Netzwerks Freenode, Andrew Lee sich und seine Neuerwerbung völlig ins Abseits, womit eins der ältesten IRC-Netzwerke zur Bedeutungslosigkeit verkommt und die meisten Projekte zum neu gegründeten Netzwerk Libera.Chat oder zu OFTC gewechselt sind.
Im Juli war GitHub an der Reihe. Die Einführung von Copilot, einem Tool für künstliche Intelligenz, das Entwickler mit automatischer Vervollständigung von Code aus dem riesigen GitHub-Fundus unterstützen soll. Die FSF sah sich angesichts drohender Lizenzprobleme zu einem Aufruf zum Erstellen von White Papers veranlasst.
Was stach heraus?
Die für mich wichtigste Veröffentlichung einer Distribution im vergangenen Jahres ist eindeutig Fedora 35. Bei Anwendungen stehen mehrere Projekte auf den vorderen Plätzen: die lange aufgeschobene Veröffentlichung von Xorg-Server 21.1 samt der bereits vorher vorgenommenen Ausgliederung von XWayland als eigenständiges Paket stehen der Einführung von PipeWire in ersten Distributionen in nichts nach.
Hat 2021 Linux nach vorne gebracht? Für mich persönlich kann ich das mit einem klaren Ja beantworten. Für mich war 2021 schon wieder mal das Jahr für Linux auf dem Desktop. Die Meinungen werden da je nach Anwendungsfall natürlich auseinandergehen, aber ich brauche außer Linux nichts für meinen privaten und beruflichen Bedarf. Für 2022 erwarte ich, dass Immutable Linux weiter in den Vordergrund rückt.
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